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Zugang zu Rohmessdaten außerhalb der Bußgeldakte 
21.12.2020

BVerfG stärkt Rechte Betroffener im Bußgeldverfahren bei Geschwindigkeitsüberschreitungen

ESV-Redaktion Recht
BVerfG: Zwischen den begehrten Informationen zur Geschwindigkeitsmessung und der Ordnungswidrigkeit muss ein Zusammenhang bestehen (Foto: S. Engels / stock.adobe.com)
Das Rechtsstaatsprinzip fordert unter anderem ein Recht auf Akteneinsicht. Doch wie weit reicht dieses Prinzip? Kann sich daraus auch ein Recht auf Zugang zu Informationen ergeben, die nicht Bestandteil einer Akte sind? Und gilt dies dann auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren? Hierüber hat das BVerfG kürzlich im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde entschieden.


In dem Streitfall beantragte der Betroffene Akteneinsicht im Rahmen eines Bußgeldverfahrens, in dem es um eine Geschwindigkeitsüberschreitung ging. Neben der Einsicht in die gesamte Verfahrensakte beantragte er Zugang zu

  • ggf. vorhandenen Videoaufzeichnungen
  • dem ggf. vorhandenen Messfilm,
  • und den etwaigen Rohmessdaten in unverschlüsselter Form.
Darüber hinaus beantragte er Einsicht

  • in die sog. „Lebensakte“ des Messgeräts
  • in dessen Bedienungsanleitung
  • in dessen Eichschein
  • den Ausbildungsnachweis des Messbeamten
sowie den Zugang zu sonstigen Beweisstücken.

Bußgeldstelle: Nicht alle Informationen gehören zur Akte

Die Bußgeldstelle gewährte Einsicht in die Bußgeldakte. Neben dem Messprotokoll und dem Messergebnis enthielt diese auch den Eichschein des eingesetzten Messgerätes. Die Bedienungsanleitung hatte die Behörde der damaligen Verteidigerin über deren Internetseite zugänglich gemacht. In Bezug auf die weiteren angefragten Informationen teilte die Behörde mit, dass Gerätestammkarten, Lehrgangs- beziehungsweise Schulungsbescheinigungen des Messpersonals und die weiteren geforderten Unterlagen nicht zur Ermittlungsakte gehören. Diese würden nur auf gerichtliche Anordnung vorgelegt.

Am 24. Mai 2017 verhängte die Bußgeldstelle gegen den Betroffenen dann ein Bußgeld in Höhe von 160 Euro sowie ein Fahrverbot wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h außerhalb geschlossener Ortschaften um 30 km/h.

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AG Hersbruck: Geschwindigkeitsmessung erfolgte in einem standardisierten Messverfahren

Hiergegen wendete sich der Betroffene mit einem Einspruch an das zuständige AG. Dieses wies die Anträge des Betroffenen auf Aussetzung der Hauptverhandlung und gerichtliche Entscheidung nach § 46 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 238 Abs. 2 StPO zurück. Zudem verurteilte das AG ihn wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 30 km/h zu einer Geldbuße und erteilte ihm ein Fahrverbot.

Den Zugang zu den Informationen hatte das Gericht dem Betroffenen nicht gewährt. Die Begründung des AG: Die Geschwindigkeitsmessung erfolgte in einem standardisierten Messverfahren. Das Gerät wäre geeicht gewesen und durch geschultes Personal entsprechend den Vorgaben der Bedienungsanleitung des Herstellers eingesetzt worden. Damit wäre die Richtigkeit der gemessenen Geschwindigkeitswert indiziert. Zudem habe weder der Betroffene konkrete Anhaltspunkte gegen die Richtigkeit der Messung vorgetragen noch seien solche aus anderen Gründen ersichtlich.

OLG Bamberg: Kein Verstoß gegen Grundsätze des fairen Verfahrens

Eine Beschwerde gegen die Entscheidung des AG Hersbruck hat das OLG Bamberg verworfen. Es sah keinen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens. Mit seiner hiergegen eingelegten Verfassungsbeschwerde rügte der Betroffene vor allem die Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren durch die Fachgerichte im Sinne Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG.

BVerfG: Zugang auch zu Informationen außerhalb der Akte

Nach Auffassung der 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet. Demnach konnte der Beschwerdeführer aus den Grundsätzen über ein faires Verfahren auch das Recht ableiten, Informationen über solche Inhalte zu erhalten, die zwar im Rahmen der Ermittlung entstanden sind, die aber nicht zur Akte genommen wurden. Die weiteren Überlegungen der Kammer:

  • Zusammenhang zwischen den begehrten Informationen und der Ordnungswidrigkeit: Die begehrten und ausreichend konkret benannten Informationen müssen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Vorwurf der Ordnungswidrigkeit stehen. Darüber hinaus müssen diese für die Verteidigung relevant sein, um Verfahrensverschleppungen, Rechtsmissbrauch oder eine uferlose Ausforschung zu unterbinden.
  • Sicht der Verteidigung maßgebend: Hierbei kommt es auf die Perspektive des Betroffenen beziehungsweise seines Verteidigers an. Hierfür ist maßgeblich, ob dieser eine Information verständigerweise für die Bewertung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf.
  • Antragstellung schon im Bußgeldverfahren: Der Betroffene kann sich mit den Erkenntnissen aus dem Zugang zu weiteren Informationen aber nur erfolgreich verteidigen, wenn er diesen rechtzeitig im Bußgeldverfahren beantragt hat. Ermittelt der Betroffene daraus dann konkrete Anhaltspunkte für ein fehlerhaftes Messergebnis, muss das Gericht darüber befinden, ob es dennoch am Vorwurf des Geschwindigkeitsverstoßes festhält.
  • Zugang auch zu Gegenständen außerhalb der Akte: In dem Verfahren des Beschwerdeführers, so die Kammer weiter, haben die Fachgerichte schon übersehen, dass aus den Grundsätzen auf ein faires Verfahren grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den Informationen folgen kann, die sich nicht in der Bußgeldakte befinden, die aber bei der Bußgeldbehörde vorhanden sind.
  • Keine Erweiterung der Akte oder gerichtlichen Aufklärungspflicht: Darüber hinaus wollte der Beschwerdeführer lediglich seine Möglichkeit wahren, dass er das Ergebnis des standardisierten Messverfahrens im Rahmen seiner eigenständigen Überprüfung bei Anhaltspunkten für Fehler erschüttern kann. Auf die Erweiterung des Aktenbestands oder der gerichtlichen Aufklärungspflicht kam es ihm nicht an. Dies, so die Kammer abschließend, haben die Fachgerichte auch verkannt.
Quelle: PM des BVerfG vom 15.12.2020 zum Beschluss vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18

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(ESV/bp)